Denis Diderot; 18th Century Aesthetics; Mimesis; Discontinuity; Narratology
Abstract :
[de] Der Begriff der Tatsache (fait) durchzieht und analogisiert Diderots epistemologische wie poetolo-gische Reflexion. Mit der Befragung der materiellen Fakten aber verbindet sich die ereignishafte Ausgestaltung ihrer Abstände: Für den Materialisten Diderot, der sich auf Newtons Korpuskularlehre rückbezieht, besteht daher in der Begegnung von Partikeln, in der Wirksamkeit ihrer Anziehung und Trägheit sowie im qualitativen Sprung von der unbelebten zur belebten Materie das zentrale For-schungsinteresse. Dabei bleibt die systemische Einheit sämtlicher Materie im All ein idealer Be-zugspunkt der wissenschaftlichen Fragestellung; Diderot hat diese auf erkenntnistheoretischer Ebene um den Gedanken ergänzt, dass es eines Abstandes, dass es einer Kontrastierung von prägnanten Sinneinheiten bedarf, um aus einem Kontinuum eine plastische und damit verständliche Gestalt herauszulesen.
Diesen zweipoligen epistemologischen Befund macht Diderot auch in seinen literarischen Arbeiten fruchtbar und diskursiviert ihn zugleich vielfach textintern: Eine geschlossene Kette der Ereignisse besteht dabei lediglich als die Hypothese von einem Buch der Welt, in dem Jacques der Fatalist das Kommende bereits vorbeschlossen sieht. Diesem schicksalhaften Welttext steht das Diskontinuierli-che des manifesten Romantextes gegenüber. Als Autor handelt Diderot gemäß der eigenen parado-xen Einsicht, dass gerade die bizarre und sprunghafte Vorstellungswelt des Dichters der Wahrhaf-tigkeit der Natur eher entspricht als ein mimetisches Nachempfinden vermeintlich logischer Sinneinheiten und bruchloser Handlungsfolgen. Zum Garanten einer neuen Wahrhaftigkeit der Kunst wird das Aufsprengen des erzählerischen Kontinuums, seine Kristallisation in Tatsachen so-wie die Anreicherung und Durchmischung der histoire mit dem sprechenden Detail. Angesichts einer unerschöpflichen Fülle der Tatsachen und der Aleatorik ihrer Kombinationsmöglichkeiten konsta-tiert der Roman daher auch das Inkommensurable, die Unabschließbarkeit seines eigenen narrati-ven Projekts.
In einer Nachbemerkung zur Erzählung Les deux Amis de Bourbonne präzisiert Diderot dieses Anlie-gen, die Literatur vor dem Vorwurf der Unwahrhaftigkeit zu retten, sie einerseits vor der Rhetorizi-tät einer regelpoetischen Erfüllung wie auch vor falsch verstandenem Idealismus klassizistischer Prägung zu bewahren. Es gelte, im glatten Gesicht des Ideals Narben und Risse sichtbar zu machen. Solche Segmentierung der Charakterbilder findet in der offenen Textgestalt von Diderots Prosa ihre Entsprechung. Diese Rückbesinnung auf die Materialität der Erzählpartikel bedingt dabei zweierlei: einerseits die Transparenz der produktionsästhetischen Verfahren, in denen der Autor als Schöpfer und Disponent von Fakten das eigene Vorgehen kommentiert und reflektiert; und andererseits den Effekt von Intransparenz, angesichts dessen der Rezipient in die Illusionswirkung der Literatur ein-willigt. Indem er gerade in ihrer durchbrochenen Sinnoberfläche die Entsprechung zur geschilder-ten Natur akzeptiert, kann die fiktionale Wirklichkeit als eine wahre gerettet werden.