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Die Eigenzeiten der Entwicklung(sdiagnostik)
Bollig, Sabine
2010In Kelle, Helga (Ed.) Kinder unter Beobachtung
 

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Keywords :
Zeitpraktiken; Entwicklungsdiagnostik bei Kindern; Ethnographie; Multiple Zeiten; Time-Practices; Prevention; Child Developmental Screenings; Ethnography; Multiple Times
Abstract :
[de] Die international zu beobachtende Ausweitung früherkennender und -fördernder Maßnahmen im Kindesalter ist von einer breiten Diskussion um die angemessene Erfassung von Entwicklungsprozessen begleitet (für einen Überblick Kelle 2009). Dabei spielt auch die Frage nach der spezifischen Zeitlichkeit von Entwicklungsprozessen eine Rolle. Insbesondere in Bezug auf die vermehrt eingesetzten Entwicklungstests und -screenings wird diskutiert, ob Entwicklungsprozesse mittels einer punktuellen Ermittlung des Entwicklungsstatus überhaupt angemessen zu erfassen seien, oder ob Entwicklung als Prozess nicht auch eine zeitlich gestreckte Beobachtungstätigkeit erfordere. Kritisch wird gegen statusbezogene Tests eingewandt, dass diese der individuellen Variabilität von Entwicklungsprozessen nicht gerecht würden, denn Entwicklungstests, so Reuner & Pietz (2006), müssten von einem regelhaften, nicht umkehrbaren Ablauf von Entwicklungsschritten ausgehen, um überhaupt valide messen zu können (ebd.: 306). Dies würde jedoch neueren Ansätzen der Entwicklungspsychologie/- pädiatrie nicht gerecht, die mittels empirischer Langzeitstudien nachweisen, dass gerade Variabilität „als besonders verlässliches Charakteristikum der kindlichen normalen Entwicklung“ (Michaelis/Niemann 1999: 47) zu gelten habe. Normale Entwicklungsprozesse seien von varianten Abfolgen, individuellem Tempo, kurzfristigen Rückschritten und inkonsistenten Verläufen geprägt; daher dürften entwicklungsdiagnostische Verfahren nicht lediglich prüfen, ob altersbasierte Entwicklungsnormen erfüllt werden. Sie müssten sich auch methodisch an der Individualität, Variabilität und Inkonsistenz normaler Entwicklungsverläufe orientieren. Da in der an variablen Verläufen orientierten Entwicklungsdiagnostik individuelle Ausprägungen primär über zeitliche Begriffe (vorher/nachher/gleichzeitig, schnell/langsam, kontinuierlich/diskontinuierlich, sukzessiv/regressiv) aufgebaut werden, geraten nicht nur statische Entwicklungsmodelle, sondern auch die ihnen zugrunde liegenden Auffassungen von Zeit in die Kritik (Koops 2005, Flammer 2005). So fordert Seitz (2004), dass eine individuell orientierte Entwicklungsdiagnostik auf konstruktivistische Zeitkonzepte – wie zum Beispiel von Maturana (1997) vorgeschlagen – umzustellen habe. Erst dadurch sei Entwicklung nicht mehr als der übliche, geradlinig von unten nach oben verlaufender Prozess zu verstehen, sondern „als eine mehrdimensionale Struktur mit zeitlichen Zuspitzungen, Pausen und Beschleunigungen“ (Seitz 2004:157). Eine „entwicklungslogische Diagnostik und Didaktik“ (ebd., in Anlehnung an Feuser 1989) nehme daher ihren Ausgang in der Vielfalt von „interpersonellen Entwicklungszeiten“ (ebd.), die mittels eines solchen nicht-linearen Zeitbegriffs sichtbar werde. Diesem hier knapp skizzierten Zusammenhang von Zeitkonzepten, Entwicklungsmodellen und -normen ist auch der folgende Beitrag gewidmet. Allerdings folgt er nicht der in den aufgezeigten Positionen mitgeführten Vorstellung, dass es kognitive Konzeptionen von Zeit oder Entwicklung sind, welche entwicklungsdiagnostische Prozeduren maßgeblich anleiten. Vielmehr wird aus kultur- und praxisanalytischer Perspektive davon ausgegangen, dass die entwicklungsdiagnostische Praxis ihre Beurteilungsressourcen weit mehr aus den Darstellungen von Entwicklung selbst bezieht, wie sie in den konkreten Praktiken der Entwicklungsdiagnostik in situ realisiert werden. Reuner & Pietz (2006) weisen mit der oben genannten Kritik an Entwicklungstests ja bereits daraufhin, dass entwicklungsdiagnostischen Methoden bestimmte Konstruktionen ihres Gegenstandes inhärent sind: Sie messen nicht nur Entwicklungsleistungen, sondern sie modellieren diese in einer bestimmen Weise, um sie überhaupt erfassen zu können. Dies trifft auch auf Tests und Screenings zu, die in den Vorsorge- und Schuleingangsuntersuchungen eingesetzt werden. Jedoch werden diese auch dort nicht einfach nur angewandt, sondern in sehr spezifischer Weise für den lokalen Kontext brauchbar gemacht (Bollig 2008, Stoklas/Schweda i.d.B.). Zudem wird entwicklungsdiagnostisches Wissen in den Kinderuntersuchungen vor allem über informelle Methoden und Routinen des medizinischen Personals erarbeitet. Entsprechend ist die Einsicht in die Gegenstandskonstruktivität von Entwicklungstests auch auf die weitere Praxis der Entwicklungsdiagnostik auszudehnen. Dann stellt sich die Frage, welche praktischen Konzepte von Zeit und Entwicklung wie in entwicklungsdiagnostische Praktiken eingelagert sind, oder anders formuliert: wie entwicklungsdiagnostische Praktiken ihr „Wissensobjekt“ formen. Analytisch lässt sich mit einem solchen Blick auf die Verwobenheit der Praktiken der Entwicklungsdiagnostik mit ihrem Gegenstand das Verhältnis von Ursache und Wirkung umdrehen: Medizinische Beobachtungen der Entwicklungsprozesse von Kindern folgen nicht der Eigenzeitlichkeit der körperlichen, kognitiven und sozialen Entwicklung des Kindes (oder verfehlen sie), vielmehr bringen die entwicklungsdiagnostischen Praktiken diese Eigenzeitlichkeit erst als soziale Tatsache hervor. Dieser praxisanalytischen Wendung folgend ist dem vorliegenden Beitrag ein Begriff von Entwicklung zugrunde gelegt, der Entwicklung nicht als ein von den Orten ihrer Beobachtung und Bearbeitung unabhängiges Wesensmerkmal von Kindern konzipiert, sondern als eine sozio-materiale Realität, die in den lokalen Praktiken der Entwicklungsdiagnostik situativ entfaltet wird. Insofern also Entwicklung in konkreten Situationen nur ‚real’ ist, als sie Teil von Praktiken – zum Beispiel denen ihrer Beobachtung – ist, gilt es diese situative Hervorbringung von Entwicklungsphänomenen in ihrem ‚Praktiziert- Werden’ zu rekonstruieren. Entsprechend verfolgt die hier vorgelegte ethnographische Studie das Ziel, die praktizierten ‚einheimischen Entwicklungsbegriffe’ der Kindervorsorge- und Schuleingangsuntersuchungen in ihrem lokalen Kontext zu erschließen –, „never isolate these from the practices in which they are, what one may call, enacted. She [the ethnographer, SB] stubbornly takes notice of the techniques that make things visible, audible, tangible, knowable” (Mol 2007: 33). Dazu wird in einem ersten Schritt in Konzepte und Methoden der ethnographischen Untersuchung eingeführt (1.) und anschließend das spezielle Zeitproblem herausgearbeitet, das sich in den Vorsorge- und Schuleingangsuntersuchungen in der Spannung von risikosensibler Früherkennung und individualisierender Entwicklungsdiagnostik aufbaut (2.). Ausgehend von einem Beispiel aus einer Vorsorgeuntersuchung wird aufgezeigt, in welchen Zeitdimensionen und mittels welcher Zeitpraktiken in der Durchführung der Untersuchungen, Entwicklungsphänome dargestellt und Entwicklungsnormen (re)produziert werden (3.). Wie in den praktizierten Zeitordnungen der beiden Untersuchungsformen die Spannung zwischen normorientierter Früherkennung und individualisierender Beurteilung bearbeitet wird, zeigt eine vergleichende Analyse der zeitlichen Formierung der Untersuchungsprogramme von Vorsorge- und Schuleingangsuntersuchungen auf (4.). Abschließend wird skizziert, in welcher Weise die auf dieser Ebene relevanten und praktizierten Alters- und Lebenslaufkonzepte auf die ‚einheimischen Entwicklungsbegriffe’ von Kindervorsorge- und Schuleingangsuntersuchungen verweisen (5.).
Disciplines :
Sociology & social sciences
Identifiers :
UNILU:UL-CHAPTER-2012-406
Author, co-author :
Bollig, Sabine ;  University of Luxembourg > Faculty of Language and Literature, Humanities, Arts and Education (FLSHASE) > Integrative Research Unit: Social and Individual Development (INSIDE)
Language :
German
Title :
Die Eigenzeiten der Entwicklung(sdiagnostik)
Alternative titles :
[en] The inherent times of development(al diagnostic procedures)
Publication date :
2010
Main work title :
Kinder unter Beobachtung
Editor :
Kelle, Helga
Publisher :
Barbara Budrich Verlag, Opladen, Unknown/unspecified
ISBN/EAN :
9783866493018
Pages :
33-48
Available on ORBilu :
since 06 November 2013

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