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Abstract :
[de] Theoretischer Hintergrund und Fragestellung
Der sozioökonomische Status (SES) der Familie kann Erwartungen und Urteile von Lehrkräften hinsichtlich schulrelevanter Fähigkeiten beeinflussen, häufig zugunsten von Schülern mit hohem SES (z.B. Glock & Kleen, 2020). Solche Erwartungen und Urteile können auf Stereotypen basieren (Jussim et al., 1996), d.h. auf verallgemeinerten Überzeugungen über Mitglieder sozialer Gruppen unabhängig von individuellen Unterschieden, und die Urteile von (angehenden) Lehrkräften beeinflussen. Das kann dazu führen, dass Schüler*innen mit hohem SES kompetenter wahrgenommen werden verglichen mit Schülern*innen mit niedrigem SES. Bei Betrachtung eines niedrigen SES zeigt sich überdies, dass Empfänger*innen von Soziallleistungen besonders negativ stereotypisiert werden, auch von angehenden Lehrkräften (Yendell et al., 2023). Der Einfluss von niedrigem SES im Vergleich zum Sozialhilfebezug auf die Urteile von Lehrkräften gegenüber Schüler*innen ist bisher kaum erforscht. In einer experimentellen Vignettenstudie untersuchten wir, wie angehende Lehrkräfte einen Schüler, dessen Eltern einen hohen vs. niedrigen SES vs. Sozialhilfebezug aufweisen, beurteilen. Wir erwarteten, dass die Urteile für den Schüler mit hohem SES positiver ausfallen würden als für den Schüler mit niedrigem SES und mit Sozialhilfebezug.
Methode
159 angehende Lehrer (142 weiblich) nahmen an dieser Studie teil. Ein fiktiver Schüler, der häufig seine Hausaufgaben nicht erledigte, wurde beschrieben. Der Beruf der Väter variierte zwischen hohem SES (Schulleiter), niedrigem SES (Taxifahrer) und Sozialhilfebezug. Die angehenden Lehrkräfte beurteilten den Schüler bezüglicher akademischen Leistung, Engagement, Beliebtheit und Störungstendenz.
Ergebnisse und ihre Bedeutung
Eine MANOVA mit den vier Urteilsdimensionen als abhängige Variablen und dem elterlichen Status der Schüler (hoher SES vs. niedriger SES vs. Sozialleistungsbezug) als Zwischensubjektfaktor ergab einen signifikanten Haupteffekt. Separate ANOVAs für jede Dimension ergaben signifikante Ergebnisse für die akademische Leistung, F(2, 192) = 14.10, p < .001, ηp2 = 0.13, und die Beliebtheit, F(2, 192) = 15.25, p < .001,
ηp2 = 0.26. Die angehenden Lehrkräfte beurteilten die schulischen Leistungen des Schülers mit hohem SES (M = 4.12, SD = 0.72) und die des Schülers mit niedrigem SES (M = 3.98, SD = 0.61) höher verglichen mit dem Schüler mit Sozialhilfebezug (M = 3.55, SD = 0.59), ohne Unterschied zwischen hohem und niedrigem SES. Bezüglich der Beliebtheit wurde der Schüler mit hohem SES (M = 4.55, SD = 0.89) positiver beurteilt als der Schüler mit niedrigem SES (M = 3.96, SD = 0.87) und mit Sozialhilfebezug (M = 3.68, SD = 1.02), ohne Unterschied zwischen letzteren beiden. Keine signifikanten Unterschiede wurden beim Engagement oder der Störungstendenz festgestellt.
Die Ergebnisse liefern mögliche Hinweise darauf, dass der Sozialhilfebezug stärker mit negativeren Stereotypen behaftet ist als ein niedriger SES (Yendell et al., 2023). Insbesondere ein Sozialhilfebezug der Eltern kann bei Schüler*innen mit ungünstigem Arbeitsverhalten durch Aktivierung negativer Stereotype zu deutlich negativ verzerrten Beurteilungen schulischer Leistungen führen. Die Ergebnisse unterstreichen die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung des elterlichen SES im schulischen Kontext und weiterer Forschung zu möglichen Urteilsverzerrungen bei Lehrkräften im Hinblick auf Familien mit Sozialhilfebezug.