Abstract :
[en] Diese publikationsbasierte Dissertationsschrift bündelt neun bereits veröffentlichte ethnographische und methodologische Studien zu den Praktiken der entwicklungsbezogenen Beobachtung von Kindern in Kindervorsorge‐ und Schuleingangsuntersuchungen. Den gemeinsamen Bezugspunkt finden die vorgelegten Studien in der Frage, wie in diesen medizinischen Beobachtungspraxen ‚Entwicklungskindheit‘ formiert wird. Unter ‚Entwicklungskindheit’ wird eine über das Entwicklungskonzept aufgespannte Konfigurierung von Kindheit gefasst, die nicht nur bestimmte Bilder von Kindern erzeugt, sondern auch die Unterscheidung zwischen Kindern und Erwachsenen bzw. Kindern und ihren Eltern normiert und relational reguliert. Insofern ist die ‚Entwicklungskindheit‘ als eine epistemische wie praktische Form ‚generationalen Ordnens‘ zu verstehen. An der Schnittstelle von erziehungswissenschaftlicher Kindheitsforschung, Medizin‐ und Präventionssoziologie wird mit diesem Bezugspunkt dann sowohl die Frage formulierbar, wie im Vollzug der Kindervorsorge‐ und Schuleingangsuntersuchungen deren ‚einheimischen‘ Entwicklungskonzepte ‚praktiziert‘ werden, als auch wie in diese Darstellungspraxis Ansatzpunkte für die ‚pädagogische Ordnung der Familie‘ eingewoben sind.Auf einer methodologischen Ebene wurde dieses Forschungsprogramm über einen praxistheoretische Modellierung der ‚Praktiken der Entwicklungsbeobachtung‘ konzeptualisiert und mit den Methoden der praxisanalytisch ausgerichteten Ethnographie realisiert. Gegenstandstheoretisch werden über die verschiedenen empirischen Studien hinweg vier Dimensionen dieser Praktiken der Entwicklungsbeobachtung ausdifferenziert: Beobachterkollektive, Beobachteroptionen, Beobachterprogramme und Beobachtungsbühnen.
Die ethnographischen Studien zeigen auf, das im Vollzug der Kindervorsorge‐ und Schuleingangsuntersuchungen ‚Entwicklung‘ in dreifacher Weise als ein hybrides Beobachtungsobjekt konstituiert wird: erstens, da sich in den verteilten Praktiken der Entwicklungsbeobachtung sehr heterogene ‚Partizipanden‘ der entwicklungsdiagnostischen Praxis kollektivieren um Entwicklung als zeitlichen, sozialen, biologischen und räumlichen Prozess sichtbar zu mache und als ‚normale‘ oder ‚abweichende‘ Entwicklung beurteilen zu können. ‚Hybrid‘ auch zweitens, weil das Beobachtungsobjekt ‚Entwicklung‘ zwar an Kindern erarbeitet wird, gleichzeitig aber auch die Eltern und die Familie als Bedingungskontext und Bearbeitungsressource für Entwicklung in dieses Beobachtungsobjekt eingewoben werden. Dieses Beobachtungsobjekt ‚Entwicklung‘ ist, drittens, aber auch als hybrid zu bestimmen, weil es in den beiden Beobachtungsformaten Kindervorsorgen und Schuleingangsuntersuchungen, je spezifisch hervorgebracht wird, diese ‚einheimischen Entwicklungskonzepte‘ jedoch verschiedene Kontexte (Familie, Schule, Kita, etc.) miteinander vermitteln und in Form von weiteren Beobachtungsaufgaben auch in diese hinein reichen. Insofern ist das hybride Beobachtungsobjekt ‚Entwicklung‘ auch nicht einfach nur ein medizinisches Objekt, vielmehr ist es durch einen Verschnitt von medizinischen und pädagogischen Wissens‐ und Praxisformen aufgebaut.
Mit Blick auf internationale Forschungsarbeiten, die herausarbeiten, dass die gesellschaftliche Konfigurierung der spätmodernen Familie maßgeblich über eine wissensbasierte Konzeption kompetenter Elternschaft aufgebaut ist, zeigen die hier eingereichten Studien auf, dass dieses erforderliche elterliche Wissen im praktischen Vollzug der Kindervorsorge‐und Schuleingangsuntersuchungen maßgeblich als Beobachtungswissen eingefordert und stimuliert wird. Und zwar sowohl mit Blick auf eine fortlaufende Entwicklungsbeobachtung der Kinder durch ihre Eltern, der Koordinierung von professionellen wie privaten Beobachtungspraxen zwischen Eltern und Professionellen, als auch über die Selbstbeobachtung der Eltern von sich selbst als Eltern.
In den Kindervorsorge‐ und Schuleingangsuntersuchungen ‚materialisiert‘ sich die Entwicklung von Kindern somit als ein Beobachtungsprojekt, das nicht nur immer weitere Beobachtungen der kindlichen Entwicklung als notwendig erscheinen lässt, sondern in diese Konzeptualisierung von ‚Entwicklungskindheit‘ die Beobachtungskompetenz der Eltern als maßgebliches Kriterium für eine optimale Entwicklung einschreibt. Ihren ‚spätmodernen Charakter’ entfalten die Untersuchungen indem sie die Entwicklung der Kinder immanent als ‚riskant‘ entwerfen, womit der Projektcharakter der modernen Kindheitsidee sich gleichermaßen perpetuiert wie transformiert: als ein Projekt der Vervollkommnung, das sich darüber selbst plausibilisiert, dass es über seine ‚Kerntechnologie‘ der kontinuierlichen, präventiven Entwicklungsbeobachtung der Kinder, nicht nur deren Status als prekär definiert, sondern auch den ihrer Eltern.
Neben diesen auf die Formierung von ‚Entwicklungskindheit‘ bezogenen empirischen Studien versammelt das Konvolut aber auch Studien, die sich zum einen mit methodologischen und methodischen Fragestellungen ethnographischen Forschens beschäftigen und zum anderen, das in dieser Dissertation entwickelte Modell der ‚verteilten Praktiken der Entwicklungsbeobachtung‘ auf einen weiteren zentralen Kontext der Dauerbeobachtung von Kindern beziehen, die fortlaufende Beobachtung kindlicher Entwicklungs‐ und Bildungsprozesse in Kindertageseinrichtungen.