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Abstract :
[en] Expertenworkshop am 30./31.08.2022 im Landesarchiv NRW in Duisburg:
born digitals und die historische Wissenschaft – Annäherungen an eine Quellenkunde
für genuin elektronisches Archivmaterial
Zu den grundsätzlichen Kompetenzen von Historiker*innen gehört die methodische Quellenkri-tik. Gleichzeitig ist es gute fachliche Tradition, dass Archivar*innen diese Kompetenz immer schon mit Blick auf die in ihren Häusern überlieferten Unterlagen gefördert haben. Archi-var*innen kennen die überlieferten Unterlagen mit ihren Charakteristika, ihren Besonderhei-ten, ihren Entstehungszusammenhängen u.ä.m. Aus diesem Wissen heraus sind viele Standard-werke zur Akten- oder Quellenkunde entstanden, die die Historiker*innen bei ihrer Forschungs-arbeit unterstützen. Aus einer Vielzahl von Werken seien an dieser Stelle beispielhaft Heinrich Otto Meisner, Aktenkunde, ders., Archivalienkunde, Gerhard Schmid, Akten, Jürgen Klooster-huis, Amtliche Aktenkunde der Neuzeit, Michael Hochedlinger, Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit genannt.
Mit der digitalen Transformation der gesamten Gesellschaft seit dem ausgehenden 20. Jahrhun-dert unterliegen auch die klassischen historischen Quellen einem fortlaufenden Digitalisie-rungsprozess: Briefe werden zu E-Mails, Akten zu E-Akten, Karteikarten zu Datensätzen etc. Hinzu treten Quellen rein digitaler Natur, die in der analogen Welt keine vergleichbaren Vorgänger hatten wie Websites oder Vorgangsbearbeitungssysteme (Fachverfahren). Archivar*innen haben bereits erste Erfahrungen mit der Sicherung dieser Unterlagen. Gleichzeitig haben Zeithistori-ker*innen begonnen, diese Unterlagen für ihre Arbeiten zu nutzen. Von einem guten fachlichen Standard im Umgang mit dieser jüngsten Überlieferungsschicht sind aber alle noch entfernt, es fehlen Praxiserfahrungen in der Breite wie in der Tiefe und zwar sowohl bei der Überlieferungs-bildung und der Archivierung als auch bei der Nutzung und der Interpretation. Die digitale Transformation in Gesellschaft und Verwaltung fordert(e) also Archivar*innen heraus, Konzepte und Verfahren zu entwickeln, um genuin elektronisches Schriftgut dauerhaft zu erhalten, also ebenso langfristig zu archivieren wie mittelalterliche Urkunden oder neuzeitliche Verwaltungs-akten. Dabei geht es um nichts Geringeres als die Verhinderung einer umfassend fehlenden Überlieferung aus der Zeit des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts, was zugleich deutlich stärkere archivarische Eingriffe in die Quellengestaltung erfordert, als das bei der analogen Über-lieferung der Fall war.
Wenngleich diese Hürde sicherlich noch nicht abschließend genommen ist, so stellt sich gleich-zeitig die Frage: Wird die historische Wissenschaft und werden Archivnutzer*innen in der Lage sein, diese genuin elektronischen Unterlagen, die kein analoges Pendant kennen, zu interpre-tieren? Welche Instrumentarien und Werkzeuge liegen vor, um versiert born digitals kompe-tent einordnen und auswerten zu können? Sind die archivarischen Eingriffe hinreichend nach-vollziehbar, so dass die quellenkritische Analyse der Forschung nicht beeinträchtigt wird.
Auch wenn es erste Ansätze dazu geben mag, so fehlt aus Sicht des Landesarchivs NRW eine um-fassende und methodengeleitete Quellenkunde für genuin elektronisches Archivgut, insbeson-dere aus der Verwaltung. Vielfach – so der Eindruck – sind diese Archivalien in der historischen Wissenschaft noch nicht bekannt oder man ist damit noch nicht vertraut. Das Landesarchiv NRW möchte sich daher gemeinsam mit Historiker*innen diesem Desiderat annehmen. Es ist be-strebt, die begonnene Bildung und Nutzung von elektronischer Überlieferung auch mit einer fachlich-theoretischen Diskussion zwischen Forschung und Archiven zu begleiten.
Zu diesem Zweck organisiert das Landesarchiv NRW einen Workshop für und von Expert*innen aus der Geschichtswissenschaft und dem Archivwesen, um den quellenkritischen Diskurs zu ge-nuin digitaler Überlieferung zwischen Forschung und Archiven zu fördern und einen Impuls für die Entwicklung einer Quellenkunde zu geben. Dieser Workshop soll zum einen als Bestandsauf-nahme und zum anderen – idealiter – als Grundlage für eine Publikation dienen. Auf der Basis der Kenntnisse von Archivar*innen über die gängigen elektronischen Archivalien einerseits und durch das Bündeln vorhandener Ansätze geschichtswissenschaftlicher Auswertungsmethoden für born digitals andererseits sollen Überlegungen für eine Quellenkunde elektronischer Unterla-gen weiterentwickelt werden.
Der Workshop grenzt sich insofern von den üblichen Herangehensweisen in den Digital Humani-ties ab, als dass Forschungsdaten, Digitalisate von analogem Archivgut, Datenbankanalysen und andere Methoden der Recherche in digitalen (Online-)Daten (Data Mining etc.) oder der digita-len Präsentation und Diskussion von Forschungsergebnissen nicht thematisiert werden. Zentral diskutiert werden soll das elektronische Archivgut, das den Großteil des genuin elektronischen Schriftguts aus den anbietungspflichtigen Behörden, also die neue und künftige Überlieferung der öffentlichen Verwaltung darstellt, nämlich elektronische Akten, Fachverfahren, ungeordnete Dateiablagen, daneben aber auch Informationen im Internet und in den Sozialen Medien.
In der ersten Sektion „Einführendes und Grundlegendes“ werden Fragestellung und Themenzu-schnitt des Workshops dargelegt sowie die Terminologie aus zwei Perspektiven zur Diskussion gestellt. Ferner wird erörtert, worin die „Digitale Transformation“ in der Verwaltung besteht und was die Konsequenzen für die Generierung von genuin elektronischen Verwaltungsunterla-gen sind: Welche Daten und Informationen entstehen? Worin unterscheiden sich genuin elekt-ronische Unterlagen von den bekannten analogen Verwaltungsakten, was ist das spezifisch Digi-tale? Wie verändern sich Systematik und Aggregation von Verwaltungsdaten? In welchem Maße greifen Archive im Zuge der digitalen Überlieferungsbildung und der elektronischen Archivie-rung in die Daten ein? Welche Bedeutung kommt dabei den signifikanten Eigenschaften, den Metadaten und den Versionierungsangaben zu?
In den Sektionen II und III stehen typische und spezifische digitale Objekttypen im Fokus hin-sichtlich der archivierten Formate und Kontexte sowie hinsichtlich der Methoden der quellen-kritischen Einordnung und quellenkundlichen Auswertung. Ausgehend von den Kenntnissen zu diesen Objekten soll u.a. Folgendes diskutiert werden: Welche technischen, verwaltungsorgani-satorischen und archivfachlichen Kenntnisse sind für eine methodenbasierte, wissenschaftliche Interpretation der ausgewählten Unterlagentypen als historische Quellen erforderlich? Welche Anforderungen sollten Archive erfüllen, damit eine quellenkritische Auswertung der elektroni-schen Überlieferung gewährleistet ist? Was muss ein „Werkzeugkasten“ beinhalten, damit er als methodenbasierte „Quellenkunde für genuin elektronisches Archivgut“ dienen und in die Ver-mittlung von Geschichtswissenschaft einfließen kann? Was wäre beispielsweise Inhalt eines Grundseminars „Quellenkunde genuin elektronischen Verwaltungsschriftguts“? Zu diskutieren ist, welche bisherigen „Werkzeuge“ können – ggf. leicht abgewandelt – auch auf born digitals angewandt werden, welche müssen neu entwickelt werden und was kann u.U. aufgrund der Digitalität der Quellen neu erforscht werden.
In der Abschlussdiskussion soll neben einem Resümee ein Ausblick auf ein mögliches Publikati-onsprojekt gewagt werden, etwa: Was ist der Bedarf der Geschichtswissenschaft? Welche Art von Quellenkunde wird benötigt? Kann es ein gemeinsames Projekt für eine Quellenkunde ge-ben?
Der zweitägige Workshop ist so gestaltet, dass die archivfachlichen Perspektiven mit denen der Geschichtswissenschaft eng verzahnt miteinander im Dialog stehen. Deshalb wird jedes Thema von zwei Impulsreferaten (à ca. 15-20 Minuten) je von einer/m Archivar*in und einer/m Histori-ker*in eingeleitet. In den verbleibenden ca. 30 Minuten ist Raum für die Diskussion. Anders als die vorhergehenden Sektionen ist die Sektion III als „Workshop im Workshop“ organisiert: Die quellenkritische Betrachtung von einerseits E-Akten und andererseits elektronischen Fachver-fahren wird von zwei Archivarinnen vorbereitet und durchgeführt. Daneben sollen gemeinsam konkrete Beispiele von elektronischen Unterlagen angeschaut und diskutiert werden. Die von Dr. Bischoff moderierte Abschlussdiskussion wird zunächst von einem Historiker mit einem Kommentar zur Tagung eingeleitet.