Contribution to collective works (Parts of books)Mehrebenenanalyse schulischer Inklusion: Zwischen globaler Diffusion der Inklusionsrhetorik, behinderten Bildungskarrieren und institutionellen Pfadabhängigkeiten in Deutschland
Biermann, Julia; Pfahl, Lisa; POWELL, Justin J W
2020 • In Dietze, Torsten; Gloystein, Dietlind; Moser, Vera et al. (Eds.) Inklusion – Partizipation – Menschenrechte: Transformationen in die Teilhabegesellschaft?
Abstract :
[de] In Deutschland ist, wie in den meisten anderen Ländern Europas, eine Debatte über die Auflösung der traditionellen Dichotomie von Sonder- versus Regelschule zu beobachten. Diese Debatten reflektieren, dass die derzeitige Lage im deutschen Schulsystem keineswegs einer Realisierung des Menschenrechts auf inklusive Bildung entspricht, wie es in Artikel 24 der UN-BRK verankert ist. Inklusive Bildung wird hier als gemeinsames Lernen an allgemeinen Schulen in allen Bildungsstufen definiert. Inklusion ist demnach weder vereinbar mit Sonderbeschulung (Segregation), Unterricht in separaten Klassen und Lerngruppen an allgemeinen Schulen (Separation) noch mit Unterricht, wel- cher zwar größtenteils gemeinsam stattfindet, jedoch nicht auf Vielfalt jeglicher Art ausgerichtet ist (etwa Schicht, Geschlecht, Migrationshintergrund, Behinderung) (Integration) (Committee on the Rights of Persons with Disabilities, 2016, S. 3). Die Institutionalisierung inklusiver Bildung setzt also eine De-Institutionalisierung segregierter und separierter Schulsysteme voraus (Biermann & Powell, 2014). Auf Grundlage dieses Verständnisses hat der UN Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Rahmen des Staatenberichtsverfahrens im Jahr 2015 auch die Entwicklungen in Deutschland kritisiert (Committee on the Rights of Persons with Disabilities, 2015, S. 8). Eine Transformation hin zu einem inklusiven Bildungssystem, in dem alle Schüler*innen möglichst lange gemeinsam lernen, hat es bisher nur regional bedingt gegeben (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2014, 2016, 2018; Blanck, Edelstein & Powell, 2013). Obwohl sonderpädagogische Förderung je nach Bundesland und Kreis an sehr unterschiedlichen Lernorten bereitgestellt wird, ist im Aggregat dennoch die Persistenz der Sonderbeschulung nicht zu verleugnen (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2014, 2016, 2018; Blanck, Edelstein & Powell, 2013). In den verschiedenen Regionen Deutschlands kommt es daher weder zu einer allgemeinen Angleichung der Lebensbedingungen noch zu einer Konvergenz in den Bildungschancen. Dies hat weitreichende Folgen für die gegenwärtige Schüler*innengeneration und nimmt negativen Einfluss auf individuelle Bildungskarrieren. Die Frage, mit welcher wir uns in diesem Beitrag beschäftigen, lautet daher: Welche Wirkung hat der völkerrechtlich anerkannte Auftrag, inklusive Bildung zu gewährleisten, auf das deutsche Schulsystem?